Interview in Luzerner Zeitung (in German)

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«Im Kopf bereit, mehr Risiken einzugehen» – Top-Geigerin Noa Wildschut über Livestreams und die Corona-Extrazeit

Die holländische Geigerin Noa Wildschut (20) stand mit sechs Jahren erstmals auf der Bühne und trat bald mit vielen europäischen Top- Orchestern auf. Vor ihrem Livestream-Konzert mit dem Luzerner Sinfonieorchester sagt sie, wie sie als viel reisender Jungstar die Corona-Extrazeit nutzt und erlebt.

Urs Mattenberger 20.04.2021, 17.47 Uhr

Noa Wildschut in the Orchesterhaus in Lucerne
Die holländische Geigerin Noa Wildschut im Orchesterhaus des Luzerner Sinfonieorchesters beim Südpol, wo sie Solistin im Livestream-Konzert ist. Bild: Patrick Hürlimann

Noa Wildschut, während ihrer Quarantäne trainierten Teilnehmer am Australian Open in Hotelzimmern Tennis. Wie verbringen Sie die Woche vor Ihrem Livestream mit dem Luzerner Sinfonieorchester in Luzern?

Eine Quarantäne ist das in Luzern nicht, weil ich schon zuvor für einen anderen Stream in die Schweiz eingereist bin. Ich verlasse also schon mal mein Hotelzimmer und geniesse es, durch diese wunderbare Stadt zu spazieren. Aber seit ich wieder einzelne Konzerte spielen kann, musste ich auch schon in Quarantäne.

Je nach Pandemielage und Einreisebestimmungen?

Ja, in Quarantäne musste ich zum Beispiel, als ich von einem Aufenthalt bei meiner Familie in Holland nach Berlin zurückkehrte, wo ich jetzt meine Studien weiter führe. Aber dabei kann ich all die Dinge tun, mit denen ich zu Hause ohnehin beschäftigt bin. Ich halte Zoom-Meetings ab, bespreche mich mit meiner Agentur oder spiele Geige. Das kann man in Quarantäne zum Glück besser als Tennis spielen.

Wie stark hat denn Corona Ihr Leben verändert?

Gravierend war vor einem Jahr die Tatsache, dass ich überhaupt nicht mehr reisen konnte. Weil ich für Konzerte sehr viel unterwegs war, musste ich mich daran gewöhnen, dass das alles wegfiel. Aber mir war auch klar, dass mir Corona zu einer Extrazeit verhilft.

Wozu haben Sie sie genutzt?

Zunächst konnte ich meine Studien in Holland abschliessen, wofür mir zwischen den vielen Konzertterminen kaum Zeit geblieben wäre. Und ich habe mir neues Repertoire erarbeitet – wie die Humoresken von Jean Sibelius, die ich mit dem Luzerner Sinfonieorchester spiele. Die sind für mich brandneu!

Sie standen schon mit sechs auf der Bühne und spielten als Teenager mit führenden europäischen Orchestern. Trifft Sie, nach den Wunderkindjahren, Corona zu einem ungünstigen Zeitpunkt der Karriere?

Nein, den Begriff «Wunderkind» würde ich ohnehin nicht verwenden. Damit ist oft die Vorstellung verbunden, dass Eltern ihre Kinder pushen und diese kaum noch Freiraum haben. Das war bei mir überhaupt nicht der Fall. Ich hatte genügend Zeit für Hobbys, schrieb Geschichten oder machte mit Freunden spielerisch Filme. «Wunderkind» suggeriert zudem, dass einem alles in den Schoss fällt. Ich musste dafür arbeiten wie alle anderen auch. Entscheidend war, dass ich die Musik über alles mochte und mag. Für mich ist es das Grossartigste, ihre Kraft durch mich hindurch strömen zu lassen und sie an andere weiterzugeben, wenn ich mit einem Büschel Pferdehaar über ein bisschen Stahldraht streiche.

Noa Wildschut in the Orchesterhaus in Lucerne
Sie weckt grosse Gefühle: Noa Wildshut spielt leidenschaftlich Geige, seit sie vier Jahre alt war. Bild: Patrick Hürlimann

Einen Karriereknick, weil Corona jetzt wichtige Auftrittserfahrungen verunmöglicht, fürchten Sie also nicht?

Nein. Klar fielen viele Debüts und Konzerttermine weg. Aber die Situation hat sich bereits etwas verändert, vor allem dank Streamingkonzerte in Holland oder wie jetzt in Luzern.

In einem Interview sagten Sie, auf der Bühne käme es weniger auf Perfektion an, sondern darauf, dem Publikum Gefühle zu vermitteln. Wie nahe kann ein Streaming-Konzert einer solchen Live-Erfahrung kommen?

Eine gute Frage! Tatsächlich habe ich in dieser Coronazeit realisiert, wie sehr ich das Publikum bei den Streamings vermisse. Das Publikum gibt einem mit seiner Präsenz unglaublich viel Energie und Inspiration. Etwas von der Spontaneität, die das ermöglicht, kann man in Livestreams hinüberretten. Wenn eine Aufführung nur im Moment stattfindet und nicht anschliessend auf Youtube für immer verfügbar ist, ist man im Kopf bereit, mehr Risiken einzugehen.

Mit 15 wählten Sie Mozart für ihre Debüt-CD und sagten, dass Sie auch der Humor in Mozarts Musik fasziniert. Ist man erst mit 20 emotional bereit für die romantische Gefühlswelt eines Jean Sibelius?

(lacht) Nein, ich habe schon mit 15 verschiedene Stile gespielt. Die Humoresken von Sibelius waren für mich eine Entdeckung – das ist wunderbare Musik mit grossartigen Stimmungen und Charakteren, die mehr gespielt werden sollte! Aber es gibt in Bezug auf den Humor sogar eine Verbindung zwischen der klaren Musik Mozarts und der romantischen von Sibelius.

Welche Art von Humor?

Mozarts Humor kann man von seinen Opern her verstehen, in denen es so viele Stimmen und Charaktere gibt, mit denen er seine Spässe treibt. Das findet man auch in seiner Instrumentalmusik, etwa im «türkischen» Satz aus dem fünften Violinkonzert, das ich damals aufgenommen habe. In den Humoresken von Sibelius deutet die Musik oft eine Atmosphäre an, geht dann aber in eine andere Richtung weiter. Man weiss nie, wohin sich das entwickelt. Auch dieses Überraschungsmoment mit starken Kontrasten und Charakteren hat mit Humor zu tun.

Sie haben in Education-Projekten Kindern in Brasilien klassische Musik nahe gebracht. Planen Sie solche Projekte auch für Ihre Altersgenossen in Europa?

Ja, es war für mich eine grossartige Erfahrung, wie begeistert die Kinder in Slums in Brasilien und in Ecuador auf diese Musik reagiert haben. Auch da zeigte sich: Musik ist nicht Wettbewerb, sondern verbindet die Menschen über die Emotionen. Das möchte ich auch Kindern und Jugendlichen hier vermitteln. Ich erfahre ja an mir selbst, dass klassische Musik nicht etwas Verstaubtes ist, sondern unsere Gefühle zum Ausdruck bringen kann wie Popmusik.

Und wie kann man das vermitteln?

Ich gehe an Schulen oder spreche in meinen Kammermusikkonzerten zum Publikum. Über die Stimme kann man eine Verbindung zu den Zuhörern herstellen, die der Musik zugutekommt. Und die Streamings könnten wichtig bleiben, weil sie ein breiteres Publikum mit klassischer Musik in Berührung bringen. Was diese braucht, ist vor allem mehr Präsenz.

Humoresken von Sibelius (Violine: Noa Wildschut, Leitung: John Storgårds): Freitag, 23. April, 19.30. Kostenlos verfügbar auf www.sinfonieorchester.ch


Source: https://www.luzernerzeitung.ch/kultur/interview-im-kopf-bereit-mehr-risiken-einzugehen-top-geigerin-noa-wildschut-ueber-livestreams-und-die-corona-extrazeit-ld.2127404